19.
Sharleen lag auf der Couch in ihrem Garderobenwagen. Sie ruhte sich vor ihrem nächsten Auftritt aus. Sy Ortis saß auf einem Stuhl neben ihr und reichte ihr das, was sie unterschreiben sollte.
Sharleen unterschrieb. Doch als er von einem Filmvertrag sprach, den er für sie ausgesucht hatte, protestierte sie.
»Noch ein Job? Mr. Ortis, ich bin müde. Ich will nicht mehr arbeiten.« Sie wußte nicht einmal, ob sie die zwei Serienfolgen, die noch anstanden, schaffen würde. »Sie haben mir doch damals gesagt, wenn ich diesen Job hier annähme, wäre ich so reich, daß ich nie mehr arbeiten müßte.«
Sy lachte. »Nun, es dauert vielleicht ein bißchen länger, wegen der Steuern und der Honorare für Agenten und Anwälte und so. Außerdem habe ich nicht erwartet, daß Sie so schnell berühmt würden, Sharleen. Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Sie sind jetzt gefragt, und dieser Film wäre super für Ihre Karriere.«
»Aber ich will gar keine Karriere, Mr. Ortis. Außerdem glaube ich, daß Sie damals recht hatten. Mit den Einnahmen aus dieser Show brauche ich nie wieder zu arbeiten.«
»Nur, wenn Sie nicht wie eine Königin leben wollen«, billigte Sy ihr zu. »Dieser Film würde Ihnen das Leben einer Königin ermöglichen, wissen Sie. Er macht sie reicher, als Sie sich das in ihren kühnsten Träumen ausmalen können.«
»Ich bin auch jetzt schon reicher, als ich mir das je hätte träumen lassen.« Sie unterzeichnete das letzte Blatt und gab den Stapel an Sy zurück. »Heute nichts mehr, Mr. Ortis. Ich kann nicht mehr.«
Sy stand auf. »Also gut, Sharleen. Morgen schicke ich Ihnen den Anwalt mit dem Rest. Ruhen Sie sich jetzt aus, bis man Sie ruft.«
Sharleen schloß die Augen. »Danke, Mr. Ortis. Sie sind sehr gut zu mir gewesen.«
Es wurde still um Sharleen. Nur die Klimaanlage summte leise. Sie wollte nicht darüber nachdenken, daß sie Mr. Ortis enttäuscht hatte. Tatsächlich hatte Sharleen in den letzten Monaten sechs Tage die Woche zwölf Stunden täglich gearbeitet. Immer nervös, oft patzend. Es lief besser, seit Jahne ihr half. Anstrengend blieb es trotzdem.
Sie fühlte eine Hand auf ihrem Arm. Doch Sharleen glaubte noch zu träumen. Es gab so viele Hände, die an ihr zogen, hierhin und dorthin...
»Miss Smith, Ihr Auftritt ist in zwanzig Minuten.« Sharleen öffnete die Augen und sah Ronnie Wagner neben sich. »Ich muß eingeschlafen sein.«
»Kann ich etwas für Sie tun? Vielleicht einen Cappuccino?« fragte Ronnie.
»Ja, das wäre prima.« Sharleen setzte sich und stöhnte leise.
»Fehlt Ihnen etwas, Miss Smith?«
»Nein, ich bin okay. Nur etwas müde.«
Ronnie wollte etwas sagen, doch dann zögerte sie. Da drängte Sharleen. »Was ist denn los?«
»Die Präsidentin von einem Ihrer Fanclubs ist draußen und möchte mit Ihnen sprechen. Normalerweise würde ich empfehlen, daß Sie mit ihr sprechen. Aber da Sie so müde sind...«
Sharleen schüttelte den Kopf. Von Anfang an hatte sie sich klargemacht, daß das zu ihrem Job gehörte. Mitunter überwältigten sie die vielen Fanclubs jedoch. Meist kamen Teenager und junge Frauen, die Sharleen wie eine Göttin anhimmelten. Sharleen versuchte, zu allen lieb zu sein. »Schon gut, Ronnie. Ich spreche mit ihr auf dem Weg zum Set. Vielleicht darf sie bei der Aufnahme zusehen.«
»Selbstverständlich, Miss Smith.«
Ronnie ließ den Maskenbildner herein, bevor sie ging. Während er Sharleen zurechtmachte, dachte sie über diese Frau nach, mit der sie gleich sprechen mußte. Sie hoffte, daß sie jung war. Die alten machten ihr Angst. Sie wirkten so arm und ausgebrannt, erinnerten sie an Lamson. Sharleen konnte die Begeisterung von jungen Mädchen noch verstehen, die von der Glitzerwelt des Fernsehens fasziniert waren. Die Schwärmerei legte sich ja mit den Jahren. Aber die älteren, die mit den hochaufgetürmten Frisuren, über die die Crew Witze riß, vor denen schauderte es Sharleen. Das waren Frauen ohne Hoffnung.
Als sie den Wohnwagen verließ, machte Ronnie eine Kopfbewegung zu der wartenden Frau und warf den Blick bedeutungsvoll zum Himmel.
Sharleen dachte nur: 0 Gott! Die Frau war nicht nur älter als alle, die Sharleen bisher gesehen hatte. Sie stand auch auf den Zehen vor Aufregung. Eine völlig heruntergekommene Person. Sie war geschmacklos und billig gekleidet. Die fettigen, gefärbten Löckchen reichten bis zur Schulter. Sie trug eine rosafarbene ärmellose Bluse, die sie fest umspannte. Ein Knopf stand offen. Der viel zu enge gelbe Rock war in der Seitennaht aufgeplatzt. Ein dicker Bauch wölbte den Stoff nach vorn. Zwei tiefschwarze Linien ersetzten die Augenbrauen. Das Rouge auf den Wagen war verschmiert und die Lippen orangerot betont. Die Frau hielt einen ausgebeulten mexikanischen Strohbeutel mit beiden Händen vor dem Körper umklammert. Sharleen blinzelte. Dann erstarrte sie. Die Frau kam auf sie zu. »Hallo, Baby«, sagte sie.
Sharleen antwortete ein wenig später. »Hallo, Momma.«
Sharleen umfaßte die Bibel. Wer hätte vor zwei Jahren gedacht, daß sie im Fernsehen sein würde, sie und Dean ein herrliches Haus haben und sie ihre Momma wiederfinden würden? Gott sei Dank!
Sie hatte ihre Momma gebeten, mit ihr zu kommen. Doch Flora Lee hatte das abgelehnt. »So wie ich aussehe? Nein.« Also hatte Sharleen ihrer Mutter erlaubt, sich in dem Wohnwagen erst einmal frisch zu machen. Dann wollten sie zusammen essen gehen.
Sharleen brannte darauf, Dean die tolle Neuigkeit mitzuteilen. Doch so war es vielleicht besser. So hatte Sharleen die Möglichkeit, sich wieder mit Flora Lee bekannt zu machen, bevor sie ihr gestand, daß Dean... nun, daß er das war, was er Sharleen war. Sollte sie Flora Lee auch sagen, was damals in Lamson passiert war? Wenn es Momma nun für ihre Pflicht hielt, mit diesem Wissen zur Polizei zu gehen? Sharleen hatte mit niemandem darüber gesprochen und auch Dean eingeschärft, den Mund zu halten. Würde er das aber auch Momma gegenüber tun?
Sharleen seufzte. Die Freude versickerte. Und Momma brauchte entsetzlich lang. Sharleen sah wieder in die Bibel. Bestimmt würde Gott Dean verzeihen. Und Momma war auch gut und großzügig und verständnisvoll.
Als Momma mit unsicheren Schritten aus dem Wohnwagen kam, fuhren sie zum Sheraton. Das war ein großes Hotel, aber nicht zu elegant. Sharleen trug ein altes Kleid, das sie von Mai ausgeliehen hatte und einen großen Hut. Dazu eine Sonnenbrille. Das Haar steckte unter einem Tuch, von dem Hut verdeckt. So hoffte sie, nicht erkannt zu werden.
Momma wollte sich gleich in der Lobby in einen Sessel fallenlassen, doch das ließ Sharleen nicht zu. »Suchen wir uns eine ruhigere Ecke.«
»Was hältst du von der Bar?«
»Der Bar?« Sharleen war noch nie in einer Bar gewesen. Momma etwa?
»Dort ist es dunkel und ruhig«, wußte Flora Lee.
Also gingen sie dorthin. Sharleen drängte darauf, die Fragen beantwortet zu bekommen, die ihr auf der Seele brannten. »Wie ist es dir ergangen, nachdem du uns verlassen hast, Momma?«
»Ich bin bis El Paso gekommen. Dort wollte ich auch bleiben. Mich ein bißchen erholen, weißt du. Eine hübsche Stadt, dieses El Paso. Ich habe einen Job auf einem Truckerparkplatz bekommen. Auch einen Platz zum Schlafen, bis ich einen Fahrer kennengelernt habe. Ich hätte schlauer sein müssen. Aber nach deinem Daddy... Nun, der Mann sah ordentlich aus. Er hat mich in Salem, Oregon, sitzengelassen. Ohne einen Penny.« Flora Lee hatte die Nüsse aufgegessen und rief die Bedienung. »Könnten wir noch mehr Nüsse haben und was zu trinken?«
Mit einem gequälten Lächeln bemühte das Mädchen sich um Höflichkeit. »Was möchten Sie?«
»Ginger Ale«, antwortete Sharleen.
»Und mir ein Budweiser Bier bitte.« Flora wandte sich an Sharleen. »Diese Nüsse machen mächtig Durst. «
Sharleen lächelte ihre Mutter an. Doch es fiel ihr nicht ganz leicht. Trank Momma etwa? Das hatte sie früher nicht getan. Allerdings konnte man ihr ein Bier am Ende eines langen Tages wohl kaum verübeln. »Was hast du denn dann gemacht?« wollte Sharleen wissen.
»Ich habe lang gewartet, bis ich aus Oregon wieder zurück ging. Erst wollte ich mich zur Friseuse ausbilden lassen. Das hätte mir das Arbeitsamt auch bezahlt. Aber dann habe ich einen Typen kennengelernt, der für Chrysler arbeitete. Der reiste durch den ganzen Nordwesten und bildete Mechaniker aus. Der hat mich bis Sacramento mitgenommen. Dort haben wir zusammen gewohnt. War richtig prima. Eines Tages begriff ich, daß er eine Frau und vier Kinder in Washington hat.«
»Ach, Momma!« Die Kellnerin brachte die Getränke. Flora trank ihr Bier in drei Schlucken aus, während Sharleen nur an ihrem Glas nippte. Vor einigen Stunden war sie noch froh und dankbar gewesen. Doch Freude und Dankbarkeit zerplatzten wie die Bläschen in ihrem Glas.
Du darfst deine Mutter nicht verurteilen, ermahnte Sharleen sich. Du bist nicht einmal ihr Fleisch und Blut, und trotzdem hat sie dich großgezogen. Wie kannst du es überhaupt wagen, dich zur Richterin aufzuschwingen? Erinnere dich doch an das, was du mit Boyd gemacht hast und wohin das führte. Und Mr. McLain hat dich betrunken gemacht. Momma aber ist am Ende und allein, ohne ihre Kinder. Sie muß schrecklich einsam sein.
Flora Lee redete pausenlos weiter, über einen Mann nach dem anderen, eine Stadt nach der anderen. Sie winkte die Kellnerin wieder heran. »Willst du auch noch was, Sharleen?« Doch Sharleen schüttelte den Kopf. »Nun, ich möchte noch ein Bier, und ich nehme noch einen Kurzen dazu.« Die Kellnerin nickte, Sharleen wußte nicht, was ein Kurzer sein sollte. Das begriff sie erst, als die Kellnerin neben das Bier ein Glas Whisky stellte. Den trank Momma mit einem Schluck aus.
Wieder sagte Sharleen sich, daß man es Momma kaum verübeln konnte, wenn sie ihre Schwierigkeiten mit Whisky fortspülte.
Flora Lee erzählte weiter. Doch nach einem weiteren Bier und noch einem Whisky wurde die Geschichte immer verworrener.
»Hätte ich nur Geld für die Ausbildung gehabt, dann hätte ich mir ein Geschäft aufgebaut und sofort einen Riesenreibach gemacht. Darauf kannst du dich verlassen. Wo ist eigentlich die Kellnerin abgeblieben?«